Man stelle sich das folgende vor: Da gibt es einen weltberühmten Musiker, der in einer nicht unbekannten Stadt vor seinem nicht sonderlich späten Tod aus Intrigen seine Stellung als Operndirektor verliert, aber gleich nach seinem Tod von der selben Stadt verklärt wird als einer ihrer ganz Großen; seine einzige überlebende Tochter wird einige Zeit darauf mit dem Rest der Familie aus dem Land vertrieben; seine Enkeltochter, die ganz für das Andenken ihres inzwischen legendären Großvaters, ihrer ebenso legendären Großmutter und das ihres fast ebenso berühmten Vaters, einem der wichtigsten Verleger seiner Zeit, lebt, kehrt, eine der letzten Zeuginnen der Hochblüte jener Stadt um die vergangene Jahrhundertwende, in ihre Geburtsstadt zurück; und diese Stadt findet es bis heute nicht im Geringsten wert, irgendeine Art der Wiedergutmachung – das möchte man fast gar nicht sagen, aber jedenfalls: Anerkennung – zu leisten (denn die Stadt schmückt sich wie das ganze Land, schulterklopfend und jovial, nur allzu gerne mit den Leistungen eben jenes frühverstorbenen Musikers und scheffelt auch von seinem Ruhm bis heute nicht zu wenig Geld); nein, es wird geduldet, daß die gebrechliche alte Dame mit den großen, ausdrucksvollen Augen und der hohen Intelligenz ihrer Familie auf engstem Raum von fast gar nichts als der Erinnerung leben muß, jeden Tag nur zum englischen Supermarkt auf der anderen Straßenseite zum Einkaufen geht – denn sie ernährt sich mittlerweile fast ausschließlich von englischer Tomatensuppe – … Man stelle sich das vor!
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Die alte Dame verstarb einige Monate nachdem ich sie kennenlernen durfte. Dazwischen war noch ein Zeitungsartikel über sie erschienen, aber sonst…