Den weihnachtlichen Gedanken fassen wir in unserem diesjährigen Weihnachtskonzert sehr weit; es ist das Bild des Weges vom Dunkel ans Licht, dem wir uns musikalisch zu nähern versuchen – abgesehen von einer sinfonischen Reverenz an den Jahresregenten Joseph Haydn.
In der Wiener Urfassung der Reformoper Orfeo ed Euricide (1762) von Christoph Willibald Gluck finden sich, anders als in der damals noch vorherrschenden Barockoper, kaum Arien, kaum Rhetorik, und keine Tänze. Alles ist dem Drama untergeordnet, der möglichst klaren Umsetzung des Textes – in seiner schnörkellosen Schlichtheit ist das Werk, das übrigens in einigen Aspekten der Naturschilderung direkt Haydns späte Oratorien oder gar Beethovens Pastorale vorwegnimmt, ein bis heute tief berührendes, zeitloses Stück Theater. Für die Aufführung in Paris von 1774 mußte Gluck allerdings doch einige Zugeständnisse an den lokalen Geschmack machen: In Frankreich war damals eine Oper ohne Balletteinlagen nicht denkbar – zu unserem Glück, denn er fügte an einer Schlüsselstelle der Oper zwei Tanznummern ein, die seitdem auch immer wieder im Konzertsaal erklingen (meist allerdings in einer an Wagner geschulten Bearbeitung von Felix Mottl): Die Air de Furie (Furientanz) und die Danses des Ombres Heureuses (Reigen seliger Geister). Orpheus, auf dem Weg in die Unterwelt, wird zuerst von den Furien am Betreten der Unterwelt gehindert; nach seinem ergreifenden Gesang verziehen sie sich; im wirklich furiosen, für das Orchester hochvirtuosen Tanz ist gegen Ende hin das sich-in-Luft-auflösen gut hörbar. Ohne Übergang folgt sodann der wirklich überirdisch gelöste Tanz der seligen Geister; das Flötensolo im Mittelteil ist berühmt… Die Finsternis wird vom Licht abgelöst.
Haydns C-Dur-Sinfonie Nr. 60 ‚Il Distratto‘ (auch aus dem Jahre 1774) ist, ganz im Gegensatz zur Fünften Beethoven, eigentlich gar keine richtige Sinfonie – es ist eine mehr oder weniger lose Aneinanderreihung von Sätzen; es gibt keinen sinfonischen Bogen und keine Gemeinsamkeiten der einzelnen Sätze. Das ist nicht weiter verwunderlich, ist die Sinfonie doch eigentlich nichts anderes als die Schauspielmusik zur Komödie ‚Der Zerstreute‘ von Jean-François Regnard. Die Hauptfigur in diesem Stück vergißt sogar die eigene Hochzeit. Haydn wäre nicht Haydn, würde er dies alles nicht mit seiner schier unerschöpflichen Phantasie reflektieren. Im ersten Satz, der Ouvertüre z.B., ‚vergißt‘ das Orchester des öfteren, ‚wie es weitergeht‘. Der zweite Satz ist etwas subtiler – in ein sehr elegantes Andante fallen die Hörner (und Bratschen!) immer wieder fanfarenartig ein; gegen Ende ‚vergißt‘ Haydn offenbar, daß das Stück eigentlich im 2/4-Takt steht und komponiert (ohne sie zu notieren) 3/4- und 4/4-Takte. Das Menuett ist überraschend aggressiv; der furiose vierte Satz ‚vergißt‘ auf seinen Furor und wird fast zum ungarischen Volkstanz. Im wunderbaren Lamento-Adagio des fünften Satzes werden wir durch Pauken und Trompeten überrascht; und der wiegende Schluß schlägt in einige, plötzlich abreißende Presto-Takte um. Im sechsten Satz findet einer von Haydns berühmtesten Scherzen statt: Das Orchester hatte offenbar zu stimmen ‚vergessen’ – und holt dies lautstark während des Satzes nach… Die Sinfonie war außerordentlich erfolgreich; noch im Jahr 1803 – Beethoven arbeitete bereits an der Eroica – mußte Haydn sich das Notenmaterial aus Esterháza schicken lassen: „seye so gütig, mir bey allererster gelegenheit die alte Sinfonie (genannt DIE ZERSTREUTE) herauf zu schicken, indem Ihro Majestät die Kayserin den alten Schmarn zu hören ein verlangen trägt …“
Nachdem wir uns seit einem Jahr immer wieder mit Beethoven beschäftigen (Prometheus, Egmont-Ouvertüre, erstes Klavierkonzert), nähern wir uns heute als erstem Höhepunkt einem seiner berühmtesten, aber auch meist-mißverstandenen Werke: der fünften Sinfonie in c-moll op. 67, einer der berühmtesten Sinfonien überhaupt, einem der bekanntesten Stücke des klassischen Repertoires. Sie wurde so oft aufgeführt, über sie wurde so viel geschrieben, daß es für den heutigen Interpreten fast das hauptsächliche Problem ist, einen unverstellten Zugang zum Notentext zu gewinnen – nach dem möglichst genauen Durcharbeiten der Literatur einen spontanen Zugang zu finden.
Der Beiname ‚Schicksalssinfonie‘ geht auf einen Ausspruch zurück („So klopft das Schicksal an die Pforte“), den Beethoven gegenüber seinem als extrem unzuverlässig bekannten ersten Biographen Anton Schindler getätigt haben soll; dieser Beiname ist im Gegensatz zu denen der Eroica und der Pastorale sonst überhaupt nicht nachweisbar und entspricht eher dem romantisch verklärenden Beethovenbild des späteren 19. und (bis auf wenige Ausnahmen) fast des gesamten 20. Jahrhunderts. – Die ‚Schicksalssinfonie‘ ist das (Mach)Werk jener Gipsbüste, die auf keinem kleinbürgerlichen Pianino fehlen darf; besonders der aus hunderten Aufnahmen bekannte dröhnende Beginn – den Rest der Sinfonie kennt man sowieso weniger – bringt uns mit dumpfen Schlägen sofort in eine sentimentale, larmoyante, nicht unangenehme Stimmung des hehren ‚Kunstgenusses‘. „Ach! der arme Beethoven!“, hört man sie selbstzufrieden ausrufen, „wie er mit dem Schicksal kämpft! Ta-Ta-Ta-Taaaaa!“
Betrachtet man allerdings das, was als einziges halbwegs gesichert zu betrachten ist: den Notentext, so kommt man ins Staunen – diese Sinfonie ist ja gar nicht larmoyant – und sie hadert nicht nur mit dem Schicksal, sondern wenn überhaupt, dann ist sie – unendlich bewunderungswürdiger – das Dokument eines Menschen, der zwar mit einem widrigen Schicksal kämpft, aber sich davon nicht unterkriegen läßt, der nicht und niemals aufgibt; ja, der nicht einmal seinen Humor verliert. Tatsächlich ist sie wahrscheinlich diejenige Sinfonie, in der am kompaktesten, am gedrungensten über vier Sätze hinweg, deren letzte zwei sogar in einem durchgespielt werden, die Reise von der Finsternis – archetypisch durch c-moll ausgedrückt – ins Licht – ebenso archetypisch C-Dur – nachgezeichnet wird. Den Bogen, den roten Faden, der die ganze Sinfonie, vom ersten bis zum letzten Takt, durchzieht, bildet allerdings wirklich der berühmte Rhythmus des Beginns: kurz-kurz-kurz-lang.
Der Erste Satz ist erstaunlicherweise der kürzeste erste Satz aller Beethoven-Sinfonien; in gerade einmal acht Minuten Spielzeit wird ein durchgehend (auch während des Seitenthemas) vom Hauptrhythmus bestimmter Sog entfaltet, der in der gesamten Literatur seinesgleichen sucht – allerdings nur dann, wenn man den Beginn nicht spielt, wie man es so gewohnt ist:
[NB]
sondern so, wie Beethoven, der ja hoffentlich weiß, was er will, es auch hinschreibt:
[NB]
wobei hier noch zu bedenken ist, daß der vierte Takt, die Verlängerung der zweiten Fermate um genau einen Takt, eine spätere Einfügung Beethovens ist, und, wie gleich anschließend in der 2. Geige klar ablesbar ist, diese Fermaten nur als Abkürzung beim händischen Schreiben gemeint sind und im Tempo zu spielen sind. Legt man dieses Prinzip auf die Fermaten des Beginnes um, dann erhält man:
[NB]
Spielt man den ganzen Satz aber so und vermeidet später auch alle pathosgetränkten Ritardandi etc., dann wird einerseits der tektonische Sog viel größer, die dynamischen Unterschiede werden viel schärfer; es kommt auch das berühmte Oboensolo zu Beginn der Reprise noch viel überraschender und freier, weil es ja tatsächlich der einzige Moment der individualistischen, völligen Freiheit in diesem sonst so starren und explosiven Satz ist. Dabei muß auch daran erinnert werden, daß es auch nicht nur aus den paar berühmten Noten innerhalb der Fermate besteht, sondern schon vorher „a tempo“ beginnt.
Nach der unversöhnlichen, verzweifelten c-moll-Explosion des ersten Satzes – Finsternis, die die Oberhand behält und jeden Keim eines freieren musikalischen Ausdruckes brutal erstickt – folgt ein meist viel zu langsam genommenes Andante con moto in As-Dur. An sich ein Variationssatz mit zwei Themen, die abwechselnd variiert werden (wie auch das berühmte Adagio der Neunten Sinfonie), trägt es doch viele Kennzeichen eines Sonatensatzes (großformatige Dreiteiligkeit, durchführungsartige Elemente, …); die Atmosphäre ist, wird der Satz wirklich ‚con moto‘ gespielt, fast überirdisch gelöst – wären da nicht immer wieder leicht beunruhigende Anklänge an den Hauptrhythmus des ersten Satzes; auch die wiederholte Modulation von As-Dur nach C-Dur klingt weniger gelöst als militaristisch.
Der dritte Satz, Allegro, gibt der Musikwissenschaft bis heute Diskussionsstoff. – In den Sinfonien 4, 6 und 7 (bezüglich der 3. findet eine ähnliche Debatte statt) besteht das Scherzo aus einem Scherzoteil und einem Trio, das nicht einmal, sondern zweimal gebracht wird: ABABA statt dem gewohnteren ABA. Der dritte Satz der Fünften hat zunächst eine eigenartige ABA‘-Form: d.h. es findet kein echtes Da Capo des Scherzo-Teils statt; stattdessen wird er gekürzt durchgehend im pp rekapituliert; worauf wie die Ruhe vor dem Sturm die berühmte pp-Überleitung zum Finale folgt. Der neuere Stand der Forschung hat allerdings sehr wahrscheinlich gemacht, daß von Beethoven ursprünglich doch die längere ABABA‘-Form gemeint gewesen sein dürfte – dadurch wird der Satz ausgewogener, der pp-Teil A‘ kommt noch überraschender (weil man ja schon gewohnt ist, daß nach B A folgt!); er ist endlich einmal nicht ‚zu kurz‘, sondern dauert ungefähr so lange wie der zweite Satz – und – das wichtigste: das riesige Finale erdrückt nicht mehr den Rest dieses Satzes gleichsam im Nachhinein. Obwohl es auch gewichtige Argumente für die traditionelle Aufführungsweise gibt (vor allem das unvermutete Wiederauftauchen des dritten Satzes vor Beginn der Reprise des vierten!), haben wir uns diesmal dazu entschlossen, die fünfteilige Version zu spielen.
Der Scherzoteil besteht aus zwei kontrastreichen Themen; einem metrisch extrem instabilen Thema in den Bässen und einem marschartigen in den Hörnern. Beruht das zweite Thema offensichtlich auf dem Grundrhythmus der Sinfonie, so ist das erste, instabile (das „poco ritardando“ bezieht sich nur auf zwei Takte und sollte nicht übertrieben werden, um nicht in Larmoyanz abzugleiten) erstaunlicherweise aus dem Hauptthema des Finales von Mozarts g-moll-Sinfonie Nr. 40 entwickelt, wie Beethovens Skizzenbücher beweisen. Das bei Mozart sehr bestimmte [NB] wird bei Beethoven zum geheimnisvollen [NB]. Das fugierte Trio ist ein gutes Beispiel für Beethovens so gar nicht zum Klischeebild passenden Humor; die kunstvolle Struktur wird von einem geradezu ruppigen Gestus konterkariert; auch der Hauptrhythmus ist kurz hörbar.
Nach dem Da Capo erklingt das ganze Trio nochmals; dies wird, wie vorhin erwähnt, von einer kalten, fahlen, wirklich gespenstischen Kurzversion des Scherzos abgelöst; diese mündet in völliges Stillschweigen; die solistisch geführte Pauke leitet in atemberaubender Stille zum Finale über.
Dieses C-Dur-Finale ist nun (obwohl oder gerade weil der Hauptrhythmus der Sinfonie wieder oftmals in Erscheinung tritt) in jeder Hinsicht die Lösung der vorherigen Spannung – ein fast orgiastischer Jubel in dieser gleißenden Tonart bricht plötzlich aus und führt, die Grenzen sprachlicher Beschreibungsmöglichkeiten bei weitem übersteigend, bis an jedes Limit der Belastbarkeit. Um diesen Freudentaumel auch klanglich zu realisieren, setzt Beethoven hier zum ersten Mal in einer Sinfonie einen erweiterten Bläserapparat ein: Die Holzblasinstrumente werden oben um eine Piccoloflöte erweitert, unten von einem Kontrafagott verstärkt; zu den Blechbläsern kommen drei Posaunen. Vor Beginn der Reprise dieses unbeschreiblichen Satzes gelingt Beethoven die völlige Verwischung sämtlicher traditioneller Satzgrenzen – einfach, indem er unvermittelt den dritten Satz wiederaufnimmt, als wäre nichts gewesen.
In der Coda findet eine Beschleunigung des Tempos um mehr als das Doppelte statt; der Schluß der Sinfonie wirkt in seiner C-Dur-Emphase fast schon wie eine Selbstkarikatur; ist aber als kathartischer Schlußpunkt eben nicht nur eines Satzes, sondern einer ganzen Sinfonie bzw. eines gesamten Konzertes nicht nur verständlich, sondern auch notwendig: genau dadurch empfindet man erst alles Vorhergehende bei aller Reichhaltigkeit als völlig zielgerichtet. Durch die Finsternis ist das Licht erreicht.
Es mag vielleicht komplexere Beethoven-Sinfonien geben, phantasievollere, gewagtere, innigere (er selbst bevorzugte die ‚Eroica‘ und die Siebte) – aber nirgends sonst ist der sinfonische Bogen vom ersten Takt des ersten Satzes bis zum letzten Takt des letzten so ausgeprägt, nirgends sonst ist die bis heute unverminderte Sprengkraft einer Kunst, die allen Schicksalsschlägen trotzen kann, so unverhüllt sichtbar, nirgends sonst ist das Wechselspiel von Zorn und Freude, Schatten und Licht so kompromißlos umgesetzt.
Nicolas Radulescu, im Dezember 2009