Den folgenden Text verfasste ich 2002 anlässlich einer Aufführung des Deutschen Requiems op. 45 von Johannes Brahms. Es handelt sich um einen spontan verfassten, durch und durch subjektiven Programmtext und um keine wie auch immer geartete wissenschaftliche Arbeit.
Entsprechend schwer fällt es mir heute, 2018, Belege für eine Behauptung zu finden, die ich 2002 aufgestellt habe: Im vierten Absatz spreche ich von einem Verbot im 19. Jahrhundert, das Werk in Kirchen zu spielen. Dies möge also mit größter Vorsicht „genossen“ werden, zum Zitieren in wissenschaftlichem Kontext ist der Text nicht geeignet. Trotzdem stehe ich ansonsten vollständig zu ihm, auch und besonders hinsichtlich der Rechtfertigung einer Aufführung mit Chor. – Nun aber nach dieser Warnung der Text:
Der heutige Abend ist gewissermaßen der dritte (und vorläufige Höhepunkt) in einem losen Zyklus von Konzerten, die ich für das Amerika-Institut geben durfte. Bei jedem dieser Konzerte stand zumindest ein Werk von Johannes Brahms im Mittelpunkt – beim ersten Konzert 1997, Poeticall Musicke wurde eine Gegenüberstellung von Brahms’ düsteren Klavierstücken mit Englischer Gambenmusik aus der Spätrenaissance versucht; damals ging es darum, aufzuzeigen, wie zufällig und irreführend rein historisch gezogene Grenzen sein können.
Der zweite Abend, den ich 1999 mit Leah R. Stein gegeben habe, drehte sich um die Rolle des Klaviers im 19. Jahrhundert; Brahms’ verinnerlichter Spätstil durfte dabei nicht fehlen – auch wenn das zentrale Stück damals Beethovens fünfte Symphonie war, die wir in einer Fassung für Klavier vierhändig aufführten. Die Praxis des 19. Jahrhunderts, so gut wie alle wichtigen Kompositionen der Orchesterliteratur der interessierten Öffentlichkeit in Form von vierhändigen Klavierarrangements zugänglich zu machen, schlägt die wohl wichtigste Brücke zum heutigen Konzert.
Das „deutsche Requiem“ op. 45 von Johannes Brahms (fertiggestellt in seiner siebensätzigen Form 1868) ist nicht nur eine seiner wichtigsten Kompositionen, sondern, wie ich glaube, eines der bedeutendsten Vokalwerke überhaupt; in eine Reihe zu stellen mit Bachs Passionen und mit Beethovens Missa solemnis, um nur wenige Beispiele zu nennen. Auf jeden Fall ist es, wie bei diesen Werken, auch hier unmöglich, in nur wenigen Zeilen auch nur einen Bruchteil der Bedeutung einzufangen; dies zu versuchen ist vermessen. Aber trotzdem ein Versuch; wenigstens einige, unzusammenhängende Gedanken:
Heutzutage vergißt man leicht, wie gewagt das Unterfangen um die Mitte des 19. Jahrhunderts war, ein „Requiem“ (d.h. eine Totenmesse) zu komponieren, das nicht auf dem lateinischen Requiem-Text beruht – nicht einmal auf einer deutschen Übersetzung, wie der Titel „deutsches Requiem“ implizieren könnte (mit Deutschland oder Deutschtum hat es sowieso nichts zu tun) – sondern das vom Komponisten gänzlich frei zusammengestellte Bibeltexte in Luthers Übersetzung verarbeitet. Doch damit nicht genug: Der größte Skandal damals war, daß Jesus Christus in keiner einzigen der verwendeten Bibelstellen erwähnt wird. So war es im gesamten 19. Jahrhundert nötig, um Sondergenehmigung anzusuchen, wollte man dieses Werk in einer Kirche aufführen; und selbst dann wurde diese Genehmigung oft nur erteilt, wenn ein zweites Sopransolo eingeschoben wurde: die Arie „I know that my redeemer liveth“ („Ich weiß, daß mein Erlöser lebet“) aus Händels Messias.
Warum aber diese Freiheit im Umgang mit dem Gegenstand? Es kann ja nicht nur die Tatsache sein, daß Brahms als Norddeutscher eben kein Katholik war, sondern Protestant – denn auch in protestantischer Trauermusik spielt zumindest der Erlöser nach wie vor eine zentrale Rolle – man vergleiche nur Schütz’s Musicalische Exequien (welche übrigens etliche der auch von Brahms vertonten Texte verwenden!) oder Bachs Trauermotetten und den Actus tragicus „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“.
All das hat, glaube ich, mit der ganz anderen Absicht dieses Stückes zu tun: War bei katholischen Totenmessen die/der Verstorbene der „Adressat“ des Stückes und beherrschende Gedanke das memento mori – von der Bitte um ewige Ruhe bis hin zur wenig tröstlichen Dies irae-Sequenz –, so standen bei protestantischen Werken wie den oben genannten in zunehmendem Maße die Hinterbliebenen, der Trostgedanke im Mittelpunkt, auch wenn im Hintergrund immer der Gedanke an die eigene Sterblichkeit mitschwingt (so z.B. in Bachs Actus tragicus „Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt sterben!“). Brahms aber geht auf diesem Weg kompromißlos weiter. In einem Brief schreibt er, daß es wohl besser wäre, das Stück gar nicht „deutsches“ Requiem zu nennen, sondern „menschliches“.
Brahms beginnt programmatisch mit den Worten „Selig sind, die da Leid tragen“; die Toten selbst werden erst im letzten Satz angesprochen: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.“ Und dazwischen, zwischen diesen beiden Eckpfeilern (die übrigens auch musikalisch aufeinander beruhen) herrscht musikalisch und inhaltlich weitere Symmetrie. Der zweite Satz führt (nach einem beängstigenden Trauermarsch) erstmals hin zum Begriff der Freude nach der Trauer, der im fünften Satz zentral ist. Der dritte und sechste Satz beginnen als Wechselgesänge des Baritonsolisten mit dem Chor (im dritten nicht mehr wie früher „Mensch, du mußt sterben“, sondern aus der umgekehrten Perspektive „Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß“) und enden als riesige Chorfugen. Das Zentrum des ganzen Werkes aber ist – und das ist sehr typisch für Brahms! – der kleinste, intimste der sieben Teile (auch der einfachste…), in dem die Vorfreude auf „die Vorhöfe des Herrn“ fast übermenschlich schlicht vertont ist.
Zurück zum Beginn dieser Überlegungen: die vierhändige Klavierfassung. Es hat sich in den letzten Jahren eingebürgert, wenn gerade kein Orchester zur Verfügung steht, oder wenn sich gewisse Chorleiter profilieren wollen (denn in der Regel dirigiert ein Orchesterdirigent die fertige Aufführung), statt der Orchesterfassung diese Fassung aufzuführen, die wir heute einmal mehr strapazieren. Dies wird meistens mit dem Güteprädikat „Fassung vom Komponisten“ o.ä. bedacht, sodaß es fast den Anschein hat, die Klavierfassung wäre die eigentliche Absicht von Brahms. Ganz so ist es freilich nicht…
Wie eingangs schon angesprochen war es im 19. Jahrhundert üblich, Musik in oft vereinfachter Version für Klavierduo zu bearbeiten. Dies war in gewisser Weise der Vorläufer der Schallaufnahme, denn nur so war es für musikalische Amateure möglich, große Werke auch außerhalb des Konzertsaales zu erleben – und zwar durch das eigene Spiel am Klavier. Daß dadurch eine unendlich größere Werkkenntnis entsteht als beim stupiden CD-hören, versteht sich von selbst. Auch vom kaufmännischen Standpunkt war es entscheidend für den Erfolg eines neuen Stückes, wie gut sich eben diese Arrangements verkauften: denn hier lag ein guter Teil des Profits.
Zumeist wurden die Arrangements von professionellen Arrangeuren hergestellt; doch von Zeit zu Zeit ließen sich die Komponisten selber dazu bewegen, ihre eigenen Stücke zu bearbeiten. Dies geschah im Falle des „deutschen Requiems“. Brahms selbst bearbeitete sein Werk für Klavier vierhändig; unter anderem wohl aus Geldnot (er erhielt ein fürstliches Honorar) und aus der Überzeugung, wenn es denn sein müsse, wäre er wohl selber der beste Kandidat für die Aufgabe. Daß er diese Arbeit insgesamt für unwürdig, aber wohl notwendig hielt, geht daraus hervor, daß er sich weigerte, seinen Namen auf dem Titelblatt als Arrangeur vermerkt zu haben; und als dies dennoch geschah, ließ er auf eigene Kosten (!) die schon gedruckten Exemplare einziehen und mit neuen Titelblättern versehen, auf denen der Arrangeur nicht mehr genannt ist. In einem Brief schreibt Brahms ironisch: „Ich habe mich der edlen Beschäftigung hingegeben, mein unsterbliches Werk auch für die vierhändige Seele genießbar zu machen. Jetzt kanns nicht untergehen.” Daß dieser ganz offensichtlich hohntriefende Satz immer noch als Beleg für die Legitimität einer Aufführung genannt wird, ist unbegreiflich.
Und dennoch: diese Fassung stammt von Johannes Brahms selbst; und es ist immer wieder lohnend, die beiden Versionen miteinander zu vergleichen. Da Brahms in seiner Klavierfassung alle Vokalstimmen in den Klaviersatz einbezieht, war es nötig, für die Aufführung mit Chor und Soli alle diese Verdopplungen wieder zu entfernen; d.h. das, was erklingt, ist sowieso kein „originaler“ Brahms mehr… aber gerade diese Spurensuche im Klavierpart ist überaus faszinierend – erlaubt sie doch Rückschlüsse auf Brahms’ eigene Gewichtung der Stimmen innerhalb der Partitur! Und schließlich war es für uns alle Beteiligten ein unbeschreibliches Erlebnis, dieses Werk einmal nicht mit 100 Sängern zu hören, sondern in einer kleinen Besetzung, die die Stimmführung erst transparent macht. Auf diese Art verliert das Stück alle Bombastik, die es sonst leicht übergestülpt bekommt, und erscheint unmittelbar und frisch und vermag einmal mehr, Ruhe und Trost zu vermitteln.
Nicolas Radulescu, 2002